Milena Jesenská

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Milena Jesenská (1938)

Milena Jesenská (* 10. August 1896 in Prag, Österreich-Ungarn; † 17. Mai 1944 im KZ Ravensbrück) war eine tschechoslowakische Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie gehörte zum engeren Freundeskreis des Schriftstellers Franz Kafka.

Milena Jesenská besuchte das Mädchengymnasium Minerva in Prag und studierte danach Medizin. Nach dem Abbruch des Studiums arbeitete sie am Prager Konservatorium und verkehrte in der Prager deutsch-jüdischen Gesellschaft, wo sie unter anderen auch Max Brod und Franz Werfel kennenlernte. 1917 wurde sie von ihrem Vater, Jan Jesenský, wegen ihres Liebesverhältnisses mit dem jüdischen Bohemien Ernst Polak in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, in der sie eine längere Zeit eingesperrt blieb, bis sie Ernst Polak (damals noch Pollak) heiraten durfte (volljährig war man damals – bis 1919 – erst mit 24).[1][2]

Unmittelbar nach ihrer Entlassung heiratete sie Polak und zog mit ihm nach Wien. Dort nahm ihr Mann sein Bohemeleben wieder auf. Sie lebten von Gelegenheitsarbeiten, vor allem von Milena Jesenskás: Sie unterrichtete Tschechisch und arbeitete als Journalistin, ab 1920 vor allem für die Prager Zeitung Tribuna.[3] Ihren Lebensunterhalt verdiente sie nicht zuletzt durch Übersetzungen.[4] Unter anderem übersetzte sie 1919 Kafkas Erzählung Der Heizer sowie weitere seiner Prosatexte vom Deutschen ins Tschechische, worauf sich 1920/21 ihre Beziehung zu diesem Schriftsteller vertiefte. Aus der hauptsächlich aus brieflichen Kontakten und wenigen Begegnungen bestehenden Beziehung resultiert ein umfangreicher Briefwechsel – nach Willy Haas ein „erschütternder Liebesroman, eine Orgie an Verzweiflung, Seligkeit, Selbstzerfleischung und Selbsterniedrigung“.[5] Kafka beendete schließlich die Beziehung im November 1920, worauf auch der Briefwechsel abrupt abbrach. Der freundschaftliche Kontakt riss allerdings bis zu Kafkas Tod nicht ab: Zwei Jahre später wurden wiederum einige vereinzelte Briefe gewechselt, und am Ende seines Lebens übergab ihr Kafka einige seiner Tagebücher.

1923 scheiterte ein Selbsttötungsversuch. Milena Jesenská nahm in dieser Zeit Drogen, es kam zur Scheidung von ihrem Ehemann. In dieser Zeit freundete sie sich mit der Schriftstellerin Alice Rühle-Gerstel an.

Milena Jesenská lebte 1925 ein Jahr zusammen mit Franz Xaver Schaffgotsch bei Alice in Friedewald-Buchholz[6] bei Dresden und schrieb in deren Zeitschriften mit. Nach ihrer Rückkehr nach Prag arbeitete sie an der Frauenseite in Národní listy (Nationalblätter) und wurde Mitglied einer Gruppe avantgardistischer linker Intellektueller, der Devětsil (Pestwurz). Sie arbeitete an der avantgardistischen Zeitung Pestrý týden (Bunte Woche) mit und veröffentlichte 1926 die Anthologie Wege zur Einfachheit. Schwerpunkt ihrer Arbeiten war das Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden in der Tschechoslowakei. Für die Prager Zeitung Tribuna schrieb sie eine Serie von Reportagen über die soziale Lage in Wien, die sie als Journalistin bekannt machte.[3] Daneben entstanden Übersetzungen von Texten Franz Werfels, Gustav Landauers und Rosa Luxemburgs.[4]

1927 heiratete sie Jaromír Krejcar (1895–1950), einen führenden Architekten der Prager Avantgarde, mit dem sie die Tochter Jana Krejcarová (1928–1981) hatte.

Jesenská erlitt während der Schwangerschaft eine Entzündung im Kniegelenk, die zur Unbeweglichkeit führte und eine bleibende Gehbehinderung verursachte. Zur Schmerzlinderung wurde Morphin, eingesetzt, von dem sie nach kurzer Zeit abhängig wurde. Aufgrund eines einjährigen Krankenhausaufenthalts verlor sie ihre Arbeitsstelle und kämpfte zunächst erfolglos gegen die Sucht an. In dieser Zeit sah sie ihre Tochter Jana kaum, und Krejcar verlor bald das Interesse an Jesenská. Sein Weggang nach Russland bedeutete schließlich auch das Ende ihrer Ehe.[7]

1931 trat Milena Jesenská der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei bei. Aufgrund einer kritischen Äußerung über den Stalinismus wurde sie 1936 aus dieser Partei ausgeschlossen. In einem Brief an Olga Scheinpflugová schrieb Jesenská dazu: „die Menschen aus dem kommunistischen Apparat sind das schlimmste, was ich auf der Welt kenne … jeder, der selbständig denken will – wird sofort beseitigt.“[8]

Sie wurde Kommentatorin der liberal-demokratischen Kulturzeitschrift Přítomnost (Gegenwart). In einer ihrer ersten Reportagen, „Gestrandete Menschen“ überschrieben, schilderte sie die Ankunft deutscher, vor dem Nationalsozialismus geflüchteter Emigranten in Prag.[9] Sie freundete sich mit dem Exilanten und Journalisten William S. Schlamm an, dessen Texte sie für die Zeitschrift übersetzte. Wenig später gelang es ihr nach acht Jahren Morphiumsucht, sich innerhalb von zwei Wochen davon zu befreien.

Nach der durch das Münchener Abkommen erfolgten Okkupation durch das nationalsozialistische Deutsche Reich und anschließender Zerschlagung der Tschechoslowakei schloss sie sich 1939 dem antifaschistischen tschechoslowakischen Widerstand an. Sie nahm die illegale Arbeit bei der Zeitschrift V boj (In den Kampf) auf und organisierte die Flucht von Juden und jüdischen und nichtjüdischen Emigranten aus der Tschechoslowakei. Sie half Funktionären der Kommunistischen Partei, sich vor der Gestapo zu verstecken.[4] Im November 1939 wurde sie von der Gestapo verhaftet und in ein Dresdner Untersuchungsgefängnis gebracht. Es folgte ein Prozess in Dresden, der mit einem Freispruch endete. Dennoch wurde sie „zwecks Umerziehung“ ins KZ Ravensbrück deportiert. Hier erhielt sie die Nummer 4714 und aufgrund dieser den Spitznamen „4711 – Kölnisch Wasser“. Die Kölner Künstlerin Tanya Ury erinnerte an diese Geschichte im Rahmen der Videoinstallation Kölnisch Wasser. 2012 entdeckte die polnische Bohemistin Anna Militz in einem Prager Archiv 14 Briefe und Kassiber aus der Haft an die Familie.[10]

Margarete Buber-Neumann (1901–1989) beschreibt in ihrem Buch Milena, Kafkas Freundin die sich entwickelnde Freundschaft zwischen den beiden Frauen und deren letzte Monate im Konzentrationslager Ravensbrück. Mit diesem Vermächtnis erfüllte Buber-Neumann den letzten Wunsch Jesenskás, die am 17. Mai 1944 an den Folgen einer Nierenoperation im Alter von 47 Jahren im Konzentrationslager starb.[11]

Ihre gesammelten Feuilletons und Reportagen kamen in der Buchausgabe Prager Hinterhöfe im Frühling (Wallstein Verlag) im Februar 2021 auf den zweiten Platz der internationalen deutschsprachigen Sachbuch-Bestenliste.[12] Inhaltlich bekräftigt diese Zeitungsessay- und Reportagensammlung den Autoren-Eigenwert der Prager Journalistin Milena Jesenská jenseits von Bezugnahmen auf Franz Kafka, meint die Rezensentin des Deutschlandfunks.[13]

Die Jesenska-Kafka-Tafel am gleichnamigen Platz in Meran-Untermais
  • Margarete Buber-Neumann: Milena, Kafkas Freundin. Langen Müller, München 1977 (und 4. Auflage 2000), ISBN 3-7844-1680-2.
  • Ota Filip: Wer war Milena? Auf Spurensuche in Oslo – Franz Kafka war für sie nur eine Episode. In: Die Zeit, 7. Januar 1983 (Gespräch mit Hana Šklíbová (1897–1987) und Anna Kvapilová (1905–1992))
  • Franz Kafka: Briefe an Milena. Fischer, Frankfurt am Main 1987; Neuauflage 2011, ISBN 978-3-596-25307-4.
  • Marta Pelinka-Marková: Mýtus Milena. Milena Jesenská jinak. Primus, Prag 1993, ISBN 80-85625-14-8 (dt.: Der Mythos Milena).
  • Alena Wagnerová: Milena Jesenská. „Alle meine Artikel sind Liebesbriefe“. Biographie. Bollmann, Mannheim 1994, ISBN 3-927901-54-7.
  • Mary Hockaday: Kafka, Love and Courage – The Life of Milena Jesenská. André Deutsch Verlag, London 1995, ISBN 0-233-98954-4; Fist american edition, Overlook Press, Woodstock, NY, ISBN 0-87951-751-4 (englisch).
  • Marie Jirasková: Kurzer Bericht über drei Entscheidungen. Die Gestapo-Akte Milena Jesenská. Neue Kritik, 1996, ISBN 978-3-8015-0294-2.
  • Margret Steenfatt: Milena Jesenská. Biographie einer Befreiung. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2002, ISBN 3-434-50215-7.
  • Steve Sem-Sandberg: Ravensbrück. Roman. Bender, Stockholm 2003, ISBN 91-0-010019-6 (schwedisch).
  • Lucyna Darowska: Widerstand und Biografie: die widerständige Praxis der Prager Journalistin Milena Jesenská gegen den Nationalsozialismus (= Edition Politik. Band 4). Transkript, Bielefeld 2012, ISBN 978-3-8376-1783-2 (Dissertation Universität Gießen 2012, 528 S.).
  • Alena Wagnerová: „Sie war ein lebendiges Feuer.“ Milena Jesenskás Briefe aus dem Gefängnis. In: Neue Rundschau. Jg. 126 (2015), Heft 2, S. 7–15.
  • Alois Prinz: Ein lebendiges Feuer. Die Lebensgeschichte der Milena Jesenská. Beltz & Gelberg, Weinheim 2016, ISBN 978-3-407-82177-5.
  • Simone Frieling: Sie ist mir unerreichbar. Milena Jesenská und Franz Kafka. In: Simone Frieling (Hrsg.): Dichterpaare. Lass uns Worte finden … Mit Grafiken von Simone Frieling. Blue Notes, Band 88. Ebersbach & Simon, Berlin 2020, ISBN 978-3-86915-215-8, S. 11–39.
Commons: Milena Jesenská – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise

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  1. Gesetz vom 6. Februar 1919 über die Herabsetzung der Altersgrenze der Minderjährigeit (BGBl Nr. 96/1919: Herabsetzung von 24 auf 21 Jahre).
  2. Margarete Buber-Neumann: Milena, Kafkas Freundin, S. 79.
  3. a b Alena Wagnerová: Die große Deuterin der kleinen Dinge. Milena Jesenská kennt man meist nur als Freundin von Kafka. Nun lässt eine große tschechische Ausgabe zum ersten Mal die Dimension und die Bedeutung ihres Schreibens sichtbar werden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Oktober 2017, S. 13.
  4. a b c Christiana Puschak: Ihrer Zeit weit voraus: Milena Jesenska. Zum 120. Geburtstag der tschechischen Journalistin, Kafka-Übersetzerin und Antifaschistin. In: junge Welt. 12. August 2016, Nr. 187, S. 15.
  5. Willy Haas: Nachwort. In: Franz Kafka: Briefe an Milena. Fischer, Frankfurt am Main 1952, S. 271.
  6. Bertram Kazmirowski: Erinnerungen an Milena. In: Vorschau und Rückblick. Heft 8, 2015, ZDB-ID 1192547-4.
  7. Milena Jesenská: Prager Hinterhöfe im Frühling. Hrsg.: Alena Wagnerová. Wallstein, 2020, ISBN 978-3-8353-3827-2, S. 34–35.
  8. Zitiert nach: Christiana Puschak: Ihrer Zeit weit voraus: Milena Jesenska. Zum 120. Geburtstag der tschechischen Journalistin, Kafka-Übersetzerin und Antifaschistin. In: junge Welt. 12. August 2016, Nr. 187, S. 15.
  9. Přítomnost. 27. Oktober 1937, übersetzt von George Gibian unter dem Titel: Refugees from Hitler in Czechoslovakia, 1937–1939. Milena Jesenska. In: Cross currents. Hrsg. vom Department of Slavic Languages and Literatures, University of Michigan, Ann Arbor, Jg. 2 (1983), ISSN 0748-0164, S. 183–194, hier S. 185–187 (englisch; umich.edu).
  10. Alena Wagnerová: „Sie war ein lebendiges Feuer.“ Milena Jesenskás Briefe aus dem Gefängnis. In: Neue Rundschau. 2015.
  11. Doris Liebermann: Vor 75 Jahren gestorben – Die Journalistin und Kafka-Übersetzerin Milena Jesenská. In: deutschlandfunk.de. 17. Mai 2019, abgerufen am 17. Mai 2019.
  12. Die „Sachbücher des Monats März 2021“. In: buchmarkt.de. 24. Februar 2021, abgerufen am 25. Februar 2021.
  13. Angela Gutzeit: Milena Jesenská: „Prager Hinterhöfe im Frühling“ – Die Radikalität des Herzens. Rezension. In: deutschlandfunk.de. 25. Januar 2011, abgerufen am 25. Februar 2021.
  14. Milena Jesenská Fellowships for Journalists. In: iwm.at, abgerufen am 20. April 2021.
  15. Einweihung des Milena Jesenská und Franz Kafka gewidmeten Platzes, abgerufen am 4. April 2024.
  16. Briefe der Milena Jesenská „Eine liebende Frau und Mutter“. Alena Wagnerová im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich. In: deutschlandfunk.de. Deutschlandfunk, 21. Juni 2015, abgerufen am 21. April 2021 (Interview mit der Biografin und Herausgeberin Alena Wagnerová).
  17. Richard Kämmerlings: Briefe aus dem KZ. In: welt.de. 15. Juni 2015, abgerufen am 21. April 2021.
  18. Volker Weidermann: Frau ohne Weltordnung. In: Der Spiegel. Nr. 26, 2015, S. 138 (online).
  19. Jana Krejcarova (1928–1981), verheiratet Jana Černá, war die Tochter von Milena Jesenská und dem Architekten Jaromír Krejcar.
  20. Kafka (5): Milena. In: DasErste.de. Abgerufen am 29. März 2024.